SAUDI-ARABIEN – SAUDI-MAGIE
Saudi-Magie
Abdullah trommelt mit den Fingern auf dem Armaturenbrett seines SUV. „Der Verkehr in dieser Stadt ist ein Alptraum“, sagt er. Das Stop-and-Go auf der King Fahd Road kostet jeden, der einmal in Riad in ein Auto gestiegen ist, den letzten Nerv. Abdullah bleibt dennoch gelassen. Die Fenster sind offen. Im dichten Feierabendverkehr der saudischen Hauptstadt summt der 25-Jährige jeden Vers der Schmachtfetzen des saudischen Sängers Khaled Abdul Rahman mit. Noch vor wenigen Jahren wäre lautes Musikhören in Saudi-Arabien „haram“ gewesen, verboten. Heute stört das niemanden mehr.Jahrzehnte lang war das Land für westliche Besucher Tabu. Niemand durfte einreisen – außer er arbeitete für eine internationale Firma und bekam eine Einladung. Derzeit ändert sich alles, denn die Regierung hat Großes vor. Seit klar ist, dass das braune Gold auch in einem der erdölreichsten Länder der Welt endlich ist, versucht sie die Wirtschaft zu diversifizieren, Saudi-Arabien als Knotenpunkt für den Handel zwischen Afrika, Asien und Europa aufzubauen und den Tourismus zu fördern. Nirgendwo in Arabien wird so viel gebaut wie hier, nirgendwo wird die Wüste so schnell erschlossen wie hier.
BESSER ALS ABU DHABI UND DUBAI
Den besten Blick auf das neue Saudi-Arabien hat man von der „Sky Bridge“ im 99. Stock des Kingdom Centers von Riad. Die 65 Meter lange „Himmelsbrücke“ verbindet die beiden Türme des 302 Meter hohen Gebäudes in atemberaubender Höhe. Im letzten Tageslicht schieben sich unten beleuchtete Autokolonnen über zehnspurige Highways. „Das Saudi-Arabien der Zukunft wird nicht wie Abu Dhabi oder Dubai“, sagt Abdullah. „Es wird besser, denn wir haben ein Kulturerbe, das es so nirgendwo anders auf der Welt gibt: die heiligen Städte Mekka und Medina, die Hauptstadt Riad, Jeddah am Toten Meer, Dammam am Persischen Golf, AlUla und vieles mehr.“ Die Öffnung sei sehr gut für sein Land. „Wir sind sehr glücklich.“
Apropos AlUla: Die Oasenstadt im Nordwesten des Landes ist einer der größten Kulturschätze der gesamten Arabischen Halbinsel. Bereits vor Jahrtausenden lud die Oase Menschen dazu ein, sich dort niederzulassen. Von der langen Besiedelung zeugen die so genannten Mustatils, bis zu 7000 Jahre alte und 500 Meter lange rituelle Bauten aus Stein, sowie aus späterer Zeit die eindrucksvollen Überreste der Königreiche von Dadan und Lihyan. Doch das eigentliche Highlight der Region um AlUla ist die Nabatäer-Stadt Hegra.
MÄRCHENHAFTE FELSGRÄBER
An einem Morgen unseres Besuchs stehen wir auf einer Düne nur wenige Kilometer von AlUla entfernt. Kein Geräusch ist zu hören, kein Mensch zu sehen. Vor uns erhebt sich die mächtige Fassade des Qasr Al-Farid. Sie ist so hoch wie ein Kirchenportal. Als die Sonne am Horizont aufgeht, taucht sie die Zinnen, Simse und Pilaster zuerst in ein zartrosa, dann in ein rotes, später in ein honiggelbes Licht. Im ersten Tageslicht leuchtet die Fassade des eindrucksvollsten Grabes von Hegra wie ein Gemälde. Fast 2000 Jahre ist es her, dass seine Erbauer es in einem einzigen Stück aus dem Felsen schlugen. Mehr als 100 Gräber mit verzierten Fassaden sind heute noch in Hegra erhalten. Die Bauwerke der Nabatäer offenbaren ihr technisches Genie: Die gewieften Baumeister meißelten die Monumentalgräber ohne Gerüste von oben nach unten in den Fels.
Als Jesus Christus geboren wurde, das Römische Reich seine größte Ausdehnung erlebte, die Han-Dynastie in China den Seidenhandel bis nach Europa ausdehnte, baute das ursprünglich nomadisch lebende Volk sein Königreich um die Hauptstadt Petra im heutigen Jordanien und den südlichen Außenposten Hegra auf, um eines der lukrativsten Handelsnetze der Welt zu beherrschen: die Weihrauchstraße. Seine größte Ausdehnung erreichte das Königreich im ersten Jahrhundert vor Christus, als die Nabatäer die Herrschaft über ein Gebiet von Damaskus im heutigen Syrien bis in den Norden der Arabischen Halbinsel innehatten. Die Wucht der nabatäischen Architektur passt in die monumentale Natur. Wenn die Sonne tief steht, erkennt man in den ockerfarbenen Sandsteinfelsen Pyramiden, Pilze, Schildkröten, Affenköpfe, ja ganze Elefanten wie am „Elephant Rock“. Majestätisch erhebt sich der Sandsteinbogen nahe AlUla aus dem Wüstensand.
HOLPRIGER START IN DIE ZUKUNFT
Lange Zeit konzentrierten sich saudische Geschichtsstunden auf den Aufstieg des Islam im siebten Jahrhundert und die Geschichte der Herrscherfamilie. Heute ist klar: Wer so ein Kulturerbe hat, der muss es zu Geld machen. Und das will die Regierung in Riad gleich richtig anpacken. 2016 stellte Kronprinz Muhammad bin Salman die „Vision 2030“ vor. Das Strategieprogramm skizziert den Weg zur wirtschaftlichen Diversifizierung, zur Belebung der nationalen Kulturstätten und zur Öffnung für den Tourismus – ganz nach dem Vorbild der Nachbarn Abu Dhabi und Dubai.
Doch es ist ein holpriger Start in die moderne Zeit: Zwar haben die Bürger heute Zugang zu Facebook, Instagram und Twitter. Es gibt Amazon, Apple-Stores, McDonalds und Starbucks. Bereits seit 2019 werden Touristenvisa ausgegeben. Die Regierung schafft freie Märkte und fördert mehr Eigeninitiative der Bürger. Für Frauen löst sich manche Fessel. Aber die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul führte zu internationaler Kritik, internationale Investoren zogen sich zurück. Dennoch bezweifelt niemand, dass Saudi-Arabien in den kommenden Jahren eines der touristischen Boomziele auf der Arabischen Halbinsel werden wird.
9400 HOTELZIMMER BIS 2030
Nicht nur die nachhaltige Küstenstadt Neom, die in den kommenden Jahren am Roten Meer entstehen soll, das pulsierende Jeddah im Westen und Dammam am Persischen Golf sollen dabei eine große Rolle spielen, sondern gerade auch AlUla. Die Modernisierung des Flughafens und der Bau der mit 9000 Spiegeln verkleideten Fassade der Veranstaltungshalle Maraya sind bereits abgeschlossen. Geplant ist auch eine 46 Kilometer lange Straßenbahnlinie vom Flughafen über die Altstadt von AlUla bis nach Hegra. Geht es nach der Regierung, wird AlUla in Zukunft jedes Jahr zwei Millionen Besucher anziehen. Bis 2035 sollen 9400 Hotelzimmer entstehen.
Einige exzellente Hotels wie das Shaden Resort und das jüngst eröffnete Habitas AlUla gibt es bereits. Das umweltfreundliche Resort verfügt über 100 luxuriöse Zimmer, Spa und Pool. Die nachhaltig gestalteten Unterkünfte fügen sich perfekt in die Umgebung des Ashar-Tals ein. Im Herbst 2022 eröffnet zudem das Banyan Tree AlUla mit 82 Luxusvillen. Auch die Luxushotelkette Aman steht mit dem Janu Resort AlUla bereits in den Startlöchern. Mit noch größerer Spannung erwartet wird das von Stararchitekt und Pritzker-Preisträger Jean Nouvel entworfene Sharaan Resort im gleichnamigen Naturreservat. Die 40 Suiten, drei Villen und 14 privaten Pavillons des exklusiven Resorts liegen versteckt in den Felsen, so dass sie von Mensch und Natur kaum wahrgenommen werden. Inspiriert wurde Nouvel bei seinen Entwürfen von der Architektur der Nabatäer.
EIN HORT FÜR DIE KUNST
Die Energie, mit der sich Saudi-Arabien gerade in Richtung Zukunft bewegt, ist überall im Land zu spüren. Auch am Persischen Golf. „Es gibt eine neue Art von Energie“, sagt Dr. Ashraf Al-Fagih. „Wir handeln immer noch mit Erdöl, aber immer öfter auch mit menschlicher Energie. Unser Land hat ein ungeheures Potenzial.“ Al-Fagih muss es wissen, denn er ist Programmchef des King Abdulaziz Center for World Culture, kurz Ithra, in Dammam. Auch Kunst und Bildung spielen in den Zukunftsplänen eine große Rolle – zurecht, schließlich sind 60 Prozent der Saudis unter 30 Jahre alt.
Wer am späten Nachmittag von Dammam an der saudischen Küste über sechsspurigen Highway und vorbei an blütenweißen SUV-Geschossen in Richtung Süden fährt, dem erscheint das Ithra fast wie eine Fata-Morgana. Wie aus dem Nichts erhebt sich das Gebäude aus der Wüste. Das Ende 2016 eröffnete Kulturzentrum wurde von der saudischen Öl-Gesellschaft Aramco gebaut – und zwar genau an dem Ort, an dem 1938 das erste Öl gefunden wurde. Das Ithra ist alles in Einem: Museum für zeitgenössische Kunst, Ideenschmiede, Bibliothek, Kino und Veranstaltungshalle. Justin Bieber, Steve Aoki und das London Symphony Orchestra traten bereits hier auf. „Unser Land ist jung, offen, in die Zukunft blickend“, sagt Al-Fagih. „Wir brauchten eine Möglichkeit, um glänzen zu können. Jetzt ist die Zeit da.“
EIN LAND IM WANDEL
Zurück in Riad. Im Feierabendverkehr der saudischen Hauptstadt erzählt Abdullah auch von seinen Plänen für die Zukunft. Vier Jahre lang hat er Tourismus studiert, um später festzustellen, dass das Hotelgewerbe nichts für ihn ist. Deswegen machte er sich als Reiseleiter selbständig. Seit Ziel ist es, schon bald eine Familie zu gründen. Dass Frauen im lange zugeknöpften Saudi-Arabien selbstbewusster werden, findet er wichtig. „Früher kam zu 100 Prozent der Mann für die Familie auf. Mittlerweile kaufen sich die Frauen ihre Schuhe selbst“, scherzt der 25-Jährige. Heute könne jeder Einzelne entscheiden, was er anziehe, wie er sein Haar schneide und was für eine Musik er höre. „Diese Selbstbestimmung ist die größte Errungenschaft der vergangenen Jahre“, ist Abdullah überzeugt. Der Reichtum Saudi-Arabiens ist enorm, der Wille etwas zu verändern auch. Das Land verändert sich derzeit so schnell und rasant wie kaum ein anderes Land der Erde – wer hätte das noch vor wenigen Jahren gedacht.